Der deutsche Arbeitsmarkt steht zweifellos vor großen Umbrüchen. Immer wieder ließt man, dass deshalb in der Personalauswahl auf weit mehr geachtet werden muss als nur die fachliche Eignung. Es steht nicht alles im Lebenslauf. Das ist logisch. Aber wie genau handhabt man so genannte formale und informelle Kompetenzen? Eine wichtige Rolle spielen wissenschaftlich fundierte eignungsdiagnostische Verfahren. Denn „informelle Kompetenzen“ lassen sich schlecht formal anerkennen – aber messen. Und wird Kompetenz und Entwicklungspotenzial messbar, so kann dies helfen eine bessere Passung von Kandidaten zu Vakanzen am Arbeitsmarkt zu erzielen, sowie Entwicklungs- und Förderungspotenzial aufzuzeigen. Hierauf können dann zum Beispiel individuelle Weiterbildungsmaßnahmen aufbauen.
Formale Qualifikationsanforderungen als Hürde
Die Verschiebungen am Arbeitsmarkt sind nicht zu übersehen. Die einen beklagen einen Fachkräftemangel in bestimmten Qualifikationsbereichen und gleichzeitig eine Unterbeschäftigung ganzer Bewerbergruppen, oft auch formal geringer qualifizierter erwerbsfähiger Personen. Dazu kommt eine verstärkte Migrationsbewegungen und damit einhergehend eine Einordnungslücke in der Beurteilung des Arbeitsmarktmarktpotenziales.
Eine zu starke Fokussierung auf formale Qualifikationsanforderungen, beispielsweise formale Bildungsabschlüsse, erscheint unter diesen Rahmenbedingungen nicht mehr zeitgemäß und darüber hinaus sogar volkswirtschaftlich schädlich zu sein. Formale Qualifikationsanforderungen erscheinen vielmehr zunehmend als Hürde auf dem Weg in den ersten Arbeitsmarkt für viele Bewerbergruppen.
Die Rolle der beruflichen Eignungsdiagnostik
Berufliche Eignungs- wie auch Potenzialdiagnostik verfolgt das Ziel eine differenzierte Ist-Einschätzung verschiedener berufsrelevanter Fähig- und Fertigkeitsdimensionen, berufsrelevanter Persönlichkeitsaspekte wie auch Interessen und motivationalen Dispositionen zu ermöglichen. Daraus resultierend werden Einstellungs- und Platzierungsentscheidungen erleichtert sowie Entwicklungspotenziale klar aufgezeigt. Formale Qualifikationsanforderungen sind im ganzen Spektrum berufsrelevanter Personencharakteristika nur ein Aspekt unter vielen anderen. Sicher gibt es Bereiche, in denen aus gutem Grund sehr hohe, auch formale Qualifikationsanforderungen vorausgesetzt werden müssen wie z.B. Humanmediziner oder Berufsrichter. Ein erfolgreich absolviertes Medizinstudium mit gesicherten Qualitätsstandards muss zurecht eingefordert werden, bevor jemand als Arzt praktizieren darf. In vielen anderen Berufsfeldern ist es jedoch fraglich, ob formale Qualifikations- und Kompetenzanforderungen immer komplett erfüllt sein müssen, um bei der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit erfolgreich zu sein. Besonders hier kann fundierte Eignungsdiagnostik ein wichtiger Baustein sein. So überrascht es nicht, dass viele erfolgreiche Unternehmer nach Lebenslauflage als Studienabbrecher oder Quereinsteiger bei vielen Unternehmen in der Vorauswahl gescheitert wären. Auch konnten umfangreiche Übersichtsstudien zeigen, dass die Aussagekraft von biographischen Daten, die ja oft primär formale Qualifikationsanforderungen widerspiegeln, begrenzt sind.
Was bedeutet fundierte Eignungsdiagnostik?
Bevor wir den Mehrwert guter und fundierter Eignungsdiagnostik aufzeigen, ist es zunächst wichtig abzugrenzen, welche Anforderungen entsprechende Instrumente erfüllen müssen, egal ob es sich um psychometrische Testverfahren, strukturierte Interviews oder eben auch zeitversetzte Videointerviews, wie sie viasto als SaaS-Lösung anbietet, handelt. Primär sind dies Objektivität, Genauigkeit (Reliabilität) und Gültigkeit (Validität). Unter Objektivität wird verstanden, dass zwei Personen die das gleiche diagnostische Instrument nutzen, zum gleichen Schluss kommen. Unter Genauigkeit wird verstanden, dass ein Instrument bei verschiedenen Messzeitpunkten nicht zu komplett gegensätzlichen Ergebnissen kommt. Unter Gültigkeit wird verstanden, dass ein eingesetztes Verfahren auch treffende Vorhersagen ermöglicht. Wird beispielsweise ein Verfahren eingesetzt, das vorgibt technisch-praktisches Verständnis zu messen, so sollten Personen die in diesem Verfahren hohe Testwerte erzielen im Durchschnitt in technischen Berufen auch bessere Ergebnisse erzielen.
Vergleichbarkeit schaffen abseits formaler Qualifikationsanforderungen
Ein erster Mehrwert den eine fundierte Eignungsdiagnostik bietet ist es eine Vergleichbarkeit zu schaffen, die bei formalisierten Qualifikationsnachweisen oft nicht hinreichend gegeben ist. So setzen etwa viele Unternehmen in der Auswahl für Auszubildende standardisierte Leistungstests ein, da formale Bildungsabschlüsse bereits auf kommunaler und föderaler Ebene nur bedingt vergleichbar sind, wie nicht nur die PISA-Studien wiederholt zeigen konnten. Die offensichtliche Frage ist: Wie also sollen dann international formale Qualifikationsanforderungen vergleichbar sein, wenn dies nicht einmal im deutschen Föderalismus möglich ist? Eine Antwort sind standardisierte Testverfahren. Diese schaffen zumindest eine vergleichbare Einordnung auf relevante Eignungsdimensionen. Damit dies gelingt wurden und werden an wissenschaftlichen Einrichtungen wie auch bei kommerziellen Anbietern große Anstrengungen unternommen um Testverfahren auch mehrsprachig und interkulturell vergleichbar zu machen.
Orientierung geben
Ein weiterer Mehrwert diagnostischer Verfahren ist es Orientierung zu geben und Möglichkeiten aufzuzeigen. Orientierung bezieht sich hierbei zum einen darauf Tätigkeitsfelder zu identifizieren die den eigenen Interessen und Fähigkeiten entsprechen, zum anderen auf das Aufzeigen von Entwicklungspotenzialen und Identifizierung zur Individualisierung gezielter Förder- und Entwicklungsangebote. Gerade wenn es um die grundlegende berufliche Richtung oder eine Neuorientierung geht, kann es sehr hilfreich sein, die eigenen Interessen kritisch zu reflektieren und sich mit verschieden Alternativen auseinanderzusetzen. Darüber hinaus können aber auch durch Potenzialanalysen Weiterbildungsmöglichkeiten aufgezeigt werden.
Passung verbessern
Ein weiterer Grundbestandteil beruflicher Eignungsdiagnostik ist das Finden einer Passung von Stellenanforderungen zu Bewerbereigenschaften. Qualifikationsanforderungen können hierbei von der Formalität gelöst werden. Stattdessen werden oft der Trias aus fachlichem Wissen, angewandten sozialen Fähigkeiten („Applied Social Skills“) und Persönlichkeit betrachtet. Gerade die beiden zuletzt genannten Facetten finden sich kaum in formalisierter Form. Wird auch relevantes Fachwissen vom Korsett der Formalität befreit und Wissensinhalte spezifiziert, die zur Erfüllung bestimmter Tätigkeiten notwendig sind, bietet sich auch die Chance Stellen mit Mitarbeitern aus oberflächlich betrachtet anderen, bei näherer Betrachtung aber inhaltlich doch verwandter Erwerbshistorie zu besetzen. In der Personalwelt würde man auch von Hidden Talents sprechen. Besonders im Hinblick auf den oft beklagten Fachkräftemangel erscheint diese Strategie sehr vielversprechend und eröffnet somit ganz neue Potenziale.
Weiterentwicklung und Aufbau beruflicher Kompetenz
Ein letzter Punkt der hier noch betrachtet werden soll ist die Unterscheidung zwischen persönlichen Charakteristiken, die wichtig sind um berufliche Kompetenzen zu erwerben und Lernpotenziale, die es zu erschließen gilt. So werden oftmals das Beherrschen bestimmter Softwareanwendungen oder andere erlernbare Fähigkeiten vorausgesetzt, die alternativ auch entwickelt werden können, wenn Potenzial und Motivation vorhanden sind. Genau diese Potenziale und die Motivation werden dahingegen oftmals gar nicht in Betracht gezogen und damit aussichtsreiche Kandidaten nicht berücksichtigt, die später zu sehr wertvollen Mitarbeitern entwickelt werden können. Sind also die Grundvoraussetzungen vorhanden, ist es sehr lohnenswert in Weiterbildung zu investieren.
Zukünftige Herausforderungen
Auf dem Weg zum Büro viel mir heute morgen ein Banner ins Auge, der vor dem Gebäude der Berliner Handwerkskammer prangt: „Bei uns zählt nicht, wo du herkommst, sondern wo du hin willst“. Angesichts der aktuellen Herausforderung auf dem Arbeitsmarkt erscheint es sinnvoll und zeitgemäß sich in vielen Bereichen von einer zu starken Fokussierung auf formale Qualifikationen zu lösen, da dies nicht mehr zeitgemäß ist, sondern sogar hinderlich bei der Erschließung wichtiger und wertvoller Potenziale auf dem Arbeitsmarkt. Fundierte eignungsdiagnostische Instrumente sind hierbei wichtige Werkzeuge um Potenziale zu erkennen und gezielt fördern zu können um Menschen dahin zu bringen, wo sie hinwollen.
Um dahin zu kommen, besteht die Herausforderungen vermehrt darin, entsprechende Instrumentarien stetig weiterzuentwickeln und die interkulturelle Vergleichbarkeit fortlaufend zu überprüfen. Auch ein Nachzujustieren der Anwendungsbereiche auf die veränderten Anforderungen wie der digitalen Transformation in vielen Bereichen ist nötig um Geltungsbereiche und Aussagekraft weiter zu optimieren. Auch müssen die Anwender diagnostischer Verfahren noch besser den Nutzen und das Potenzial kommunizieren um die Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Praxis zu schließen. Zuletzt nützen aber auch gute und aussagekräftige Verfahren wenig, wenn Angebote zur Förderung vorhandener Potenziale fehlen. Hier sind jedoch die gesellschaftlichen und politischen Akteure gefordert.