Die zunehmende Verbreitung mobiler Endgeräte wie Smartphone und Tablet Computer hat viele Auswirkungen. Die Personalauswahl ist von dieser Entwicklung nicht ausgenommen. Doch neben den Vorteilen, die Mobile Recruiting und eRecruiting mit sich bringen, gibt es auch eine Kehrseite: Die Touchscreens und Onlineplattformen bedrohen eine der traditionsreichsten Skurrilitäten der Personaldiagnostik: Die Graphologie oder Schriftpsychologie droht auszusterben!
Der dubiose Werkzeugkasten der Graphologie
Die vom Aussterben bedrohte Spielart des pseudodiagnostischen Werkzeugkastens beschäftigt sich mit allen Offenbarungen, die eine Handschrift über den Schreiber verrät: Persönlichkeit, Intelligenz, Temperament, Stärken, Schwächen und noch eine ganze Reihe weiterer Attribute. Anwendungen der Graphologie sollen sich in der Erziehungsberatung, Partnerwahl oder der betriebsgraphologischen Beratung finden.
Betriebspsychologische Beratung? Genau! Auch Personalauswahl kann mittels Graphologie betrieben werden.
Kurz vorab: Historische Wurzeln der Graphologie
Im Gegensatz zur Schädeldeutung verbreitete sich die Graphologie erst mit zunehmender Alphabetisierung der Bevölkerung im 19ten Jahrhundert. Immerhin musste erst ein Deutungsgegenstand her, der – anders als der Schädel für Psychophysiognomen – nicht natürlich gewachsen ist, sondern erst kultiviert werden musste. Die „Deutsche Gesellschaft für Graphologie“ wurde 1896 gegründet, und diverse Nachfolgeorganisationen bevölkern mit ihrer Präsenz noch heute das Netz. Hierdurch entsteht der Eindruck, dass es wohl eine gewisse Verbreitung dieser Disziplin gibt.
Was deuten Schriftpsychologen? Und die Verbreitung in der Personalauswahl?
Deuten lässt sich wohl alles, solange es handschriftlich verfasst ist. Ob sich bereits die elektronische Unterschrift beim DHL Boten deuten lässt, konnte leider nicht recherchiert werden.
Wie ist das Geschriebene korrekt zu deuten? Tja, Graphologen sind sich nicht ganz einig darin, was bestimmte Schriftbilder genau aussagen. Eine Deutungsmethode besteht darin, die Schrift in drei Zonen einzuteilen und diese dann frei nach Freud zu deuten. Der obere Teil gibt Auskunft über das Über-Ich (das Gewissen), der mittlere Teil über das Ich und der untere Teil über das dunkle Es (die Triebwelt). Also Vorsicht bei schlampigen g, q oder y!! Diese könnten schnell dazu führen, als triebhafter Urmensch zu gelten.
Je größer die Schrift, desto …! Verwandtschaft mit Schädeldeutung?
Die Größe der Schrift verrät etwas über Willensstärke: Je größer die Schrift, desto willensstärker der Schreiber. Ähnlichkeiten im Denkmuster zu den Schädeldeutern sind bloßer Zufall („Wie die Nase eines Mannes…“).
Die Weite oder Gedrängtheit einer Schrift kann angeblich Aussagen über soziale Verlangen machen. Logisch: Je gedrängter die Schrift, desto größer das Verlangen nach Nähe. Die Zeilenführung (solange kein liniertes Papier verwendet wird) verrät etwas über die Festigkeit, Zielstrebigkeit und Beständigkeit eines Schreibers, usw. usw.
Skandalös: KEIN Zusammenhang zwischen Schrift und Berufsleistung
Im Vergleich zu anderen abstrusen Methoden gibt es ganze Reihe an Studien zur Aussagekraft von Graphologie. Schmidt & Hunter (1998) fassten diese zusammen und kamen zu einem eindeutigen Ergebnis: Einen Zusammenhang zwischen Schrift und Berufsleistung gibt es nicht. (Überraschung!!?) Also eine glatte Sechs – durchgefallen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch andere Zusammenfassungen (Driver et al., 1996). Natürlich gibt es auch einige Zufallsbefunde, diese machen das Gesamtergebnis aber nicht besser.
Frankreich am Abgrund? Graphologie dort angeblich stark verbreitet
Wie verbreitet Graphologie in der Personalauswahl ist, wird meist völlig überschätzt. Allerdings hält sich auch das Gerücht, dass es Bielefeld gar nicht gibt. Wenn Graphologie überhaupt noch in einem Land verbreitet ist, dann in Frankreich. Nicht-repräsentative Erhebungen kamen dort zur absurd hohen Rate von 38% bis 98% an Unternehmen, die graphologische Verfahren einsetzten würden. Diese Zahlen sind allerdings so sehr anzuzweifeln wie die Ergebnisse diverser Preise eines gelben Automobilclubs.
Die nackte Wahrheit: Was sagen die seriösen Schriftforscher?
Zuletzt ein Statement der International Graphonomics Society. Diese repräsentiert Wissenschaftler, die sich unter anderem mit neurologischen Grundlagen und Lehrmethoden der Handschrift oder Erkennen von Schriftbildern (z.B. für Gutachten zu gefälschten Unterschriften) beschäftigen:
“Although the use of handwriting analysis in making personnel selection decisions has a very long history, the evidence available to date fails to support this practice. […] the use of graphological judgments as personnel selection is much less effective than several other readily available personnel selection methods…”
Simner & Goffin (2003, p. 361)
Weiterführende Literatur:
- Bangerter, A., Konig, C. J., Blatti, S., & Salvisberg, A. (2009). How Widespread is Graphology in Personnel Selection Practice? A case study of a job market myth. International Journal of Selection and Assessment, 17(2), 219-230.
- Driver, R. W., Buckley, M. R., & Frink, D. D. (1996). Should we write off graphology? International Journal of Selection and Assessment, 4(2), 78-86.
- Kanning, U. P. (2010). Von Schädeldeutern und anderen Scharlatanen. Unseriöse Methoden der Psychodiagnostik. Lengerich: Papst Science Publishers.
- Schmidt, F. L., & Hunter, J. E. (1998). The validity and utility of selection methods in personnel psychology: Practical and theoretical implications of 85 years of research findings. Psychological Bulletin, 124(2), 262-274. doi: 10.1037//0033-2909.124.2.262.
- Schuler, H., Hell, B., Trapmann, S., Schaar, H., & Boramir (2007). Die Nutzung psychologischer Verfahren für die externale Personalauswahl in deutschen Unternehmen. Ein Vergleich über 20 Jahre. Zeitschrift für Personalpsychologie, 6 (2), 60-70.
- Simner, M. L., & Goffin, R. D. (2003). A position statement by the international graphonomic society in personnel selection testing. International Journal of Testing, 3(4), 353 – 364.