Das deutsche Rechtssystem bescheinigt Arbeitszeugnissen ihr Existenzrecht, denn Arbeitgeber sind auf Grundlage des deutschen Gesetztes (§630 BGB bzw. §109 der Gewerbeordnung) verpflichtet, Arbeitnehmern nach Beendigung des Dienstverhältnisses ein Zeugnis auszustellen. Dementsprechend werden in Deutschland jährlich schätzungsweise 2,58 Mio. Endzeugnisse (Huesmann, 2008) ausgestellt. Umfragen zur Personalauswahl bescheinigen Arbeitszeugnissen ihre Wichtigkeit in der Praxis, denn sie sind in der Personalauswahl ein genutztes Medium.
In Studien schätzten mehr als 200 deutsche Unternehmen ihr Gewicht bei der Einladungsentscheidung auf 34,8%, größer sogar als das Gewicht des Anschreibens (16,7%) oder sogar des Lebenslaufes (25,3%). Auch im Jahre 2012 schreiben ihnen 34% der deutschen Personaler eine hohe Wichtigkeit in der Bewerberauswahl zu (Online-Umfrage der deutschen Bildung, 2012). Wissenschaftliche Studien zur Personalauswahl bescheinigen Arbeitszeugnissen nichts, denn es gibt kaum welche. Die wenigen Studien, die existieren, liefern darüber hinaus eher niederschmetternde Ergebnisse für die Aussagekraft von Arbeitszeugnissen. Woher diese Diskrepanz kommt, was für Probleme es mit der Verwendung von Arbeitszeugnissen als personaldiagnostisches Instrument gibt und wie sie dennoch genutzt werden können, lesen Sie in folgendem Artikel.
Fehlerquellen im Arbeitszeugnis
Jeder deutsche Arbeitnehmer hat ein Recht auf ein Arbeitszeugnis. So ein Arbeitszeugnis enthält typischerweise Informationen über die Position und verbundene Aufgaben des Arbeitnehmers sowie eine Beurteilung der Leistung und des Sozialverhaltens. Dabei ist der Aussteller des Zeugnisses zu sowohl Wahrheit wie auch Wohlwollen verpflichtet, was besonders negative Charakterisierungen des Angestellten verbietet. Warum dies wohl eines der größten Probleme aus eignungsdiagnostischer Sicht ist, sehen wir später. Als personaldiagnostisches Instrument finden Arbeitszeugnisse besonders im Prozess der Vorauswahl Verwendung. Den von Personalern genannten Vorteilen der Arbeitszeugnisse steht eine viel größere Anzahl von Nachteilen gegenüber, so scheint es oft. Arbeitszeugnisse sind zu anfällig für Fehler, um als zuverlässiges und gültiges Instrument der Personalauswahl zu gelten (siehe Tabelle 1). Diese Fehlerbehaftetheit untergräbt in vieler Hinsicht die Aussagekraft von Arbeitszeugnissen.
Verschleierungstechniken der Personaler auf dem Prüfstand der Forschung
In der Übersicht nur eines unter vielen Fehlerquellen, dennoch wohl eines der gewichtigsten Probleme von Arbeitszeugnissen: die Geheimsprache. Die Tatsache, dass Arbeitnehmer nicht in negativen Charakterisierungen beschrieben werden dürfen, führte schon zu unzähligen Geheimschriften und verdeckten Codes. Diese zu interpretieren, erinnert zeitweise eher an die Dechiffrierung von Hyroglyphen als an wissenschaftlich fundierte Eignungsdiagnostik. Denn der Arbeitgeber bedient sich gezwungenermaßen anderer Methoden der Verschlüsselung und zwingt den Leser dazu zwischen den Zeilen zu lesen. Genutzte Techniken sind z.B.
- die Leerstellen-Technik: Schlechtes wird weggelassen – der Leser sollte also besonders Wert darauf legen, was NICHT im Zeugnis steht
- die Widerspruchstechnik: Schlechtes wird durch verdeckte Widersprüche dargestellt: „Herr X arbeitete nach langer Einarbeitungsphase mit schneller Auffassungsgabe“
- die Positiv-Skala Technik: abgestufte Positiv-Formulierungen stehen für die Bandbreite negativer bis positiver Bewertungen
Auch wenn die psychologische Forschung zum Thema Arbeitszeugnisse bisher eher spärlich besiedelt ist, wurde die „Positiv-Skala Technik“ schon genauer unter die Lupe genommen. Ein deutsches Forscherteam um Huesmann (2008): Der in Geheimsprache befriedigenden Formel „zu unserer vollen Zufriedenheit“ wurden sowohl von Laien wie auch von Fachleuten Noten von „Sehr gut“ bis „Unbefriedigend“ zugewiesen. Da stellt sich dem besorgten Leser doch die Frage, ob Arbeitszeugnisse überhaupt etwas taugen. Um weitere wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema Arbeitszeugnisse zu bekommen, bleibt nur der Vergleich mit dem im amerikanischen Raum oft verwendeten Referenzschreiben. In einer Studie zur Aussagekraft von freien Referenzschreiben wurden folgende Kombinationen untersucht:
- Ein Aussteller bewertet zwei verschiedene Bewerber (1-zu-2-Kombination)
- Zwei Aussteller bewerten denselben Bewerber (2-zu-1-Kombination)
Wären Referenzschreiben zuverlässig und gültig, würde ein hoher Grad an Unterscheidungsfähigkeit in Kombination (1) sowie eine hohe Übereinstimmung in Kombination (2) vorliegen. Die Ergebnisse der Studie zeigen stattdessen: freie Beurteilungsschreiben sind sowohl nicht- unterscheidend wie auch nicht- übereinstimmend und ermöglichen laut dieser Studie keine genaue und zuverlässige Aussage zur Eignung der Bewerber.
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Unter welchen Umständen Arbeitszeugnisse dennoch brauchbar sind
Eine der größten metaanalytischen Studien zur Validität eignungsdiagnostischer Methoden wurde 1998 von Schmidt und Hunter durchgeführt. In dieser wurde dem Referenzschreiben eine beachtliche prognostische Validität von .23 bis .26 bescheinigt, allerdings unter gravierenden Einschränkungen. Laut Schmidt und Hunter können Arbeitszeugnisse also durchaus aussagekräftig sein. Allerdings müssen folgende Punkte beachtet werden. Eignungsdiagnostische Güte können Arbeitszeugnisse nur erlangen, wenn sichergestellt wäre, dass sowohl der Verfasser als auch der Empfänger der Geheimsprache der Arbeitszeugnisse mächtig ist. Um die anderen Fehlerquellen im Prozess zu umgehen, bietet sich darüber hinaus besonders das Gespräch mit dem früheren Arbeitgeber an. Dort können Fragen geklärt werden wie: Wie gut kannte der Verfasser die Tätigkeit und Leistung des Arbeitnehmers? Wie vertraut ist der Verfasser mit der Geheimsprache der Arbeitszeugnisse? Eine weitere Möglichkeit, Arbeitszeugnisse zu interpretieren, liegt in dem Vergleich mehrerer Zeugnisse. Dabei ist jedoch zu beachten, dass auch nur dann bedingt Aussagen möglich sind, wenn es sich um ähnliche Tätigkeitsfelder und Branchen handelt.
Als Fazit der Betrachtung von Aussagekraft und Nutzen von Arbeitszeugnissen lässt sich also feststellen: Arbeitszeugnisse sind mit unzähligen Problemen behaftet. Arbeitszeugnisse können Informationen im Rahmen eignungsdiagnostischer Auswahlprozesse liefern. Dafür müssen jedoch bestimmte Bedingungen gegeben sein. Das Wichtigste dabei ist wohl, dass Verfasser und Empfänger über Kenntnisse in der Arbeitszeugnissprache verfügen. Dass darüber hinaus weitere Fehler im Prozess entstehen können, z.B. Beobachterfehler, sollte ebenfalls bedacht und durch notwendige Vorkehrungen beiderseits (z.B. Beurteilungssysteme, objektive Kriterien bei der Bewertung) minimiert werden.