Die Simulation ist ein gut etabliertes Grundprinzip der Personalauswahl. Unter der Annahme, dass sie sich in realen Situationen in ihrem späteren Arbeitsalltag ähnlich verhalten, sollen sich Bewerber im Assessment Center in gespielten Situationen beweisen. Situational Judgment Tests (SJTs) basieren auf einer ähnlichen Annahme. Eine neue Studie stellt diese Annahme allerdings in Frage. Aufschrei unter den Personaldiagnostikern, Verwirrung unter den Recruitern! Lohnen sich SJT also überhaupt noch? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Wir gehen der Studie auf den Grund:
ACs sind aufwändig und benötigen einiges an Ressourcen, weshalb meist nur ein vorausgewählter Kreis an Kandidaten eingeladen wird. Um das Simulationsprinzip schon eine Stufe früher in den Auswahlprozess einfließen zu lassen, sind Situational Judgment Tests (SJTs) eine beliebte und ökonomische Methode. Dabei wird darauf verzichtet eine Situation zu simulieren, stattdessen wird diese nur beschrieben.
Wie funktionieren SJTs?
Bewerbern werden jobspezifische kritische Situationen, wie sie im Berufsalltag passieren können, in Text oder Videoform präsentiert. Sie sollen dann aus verschiedenen Antwortalternativen diejenige wählen, welche sie in der entsprechenden Situation als effektivste betrachten. Verschiedene Studien konnten, auch über andere Verfahren hinaus, zeigen, dass SJTs sehr gut geeignet sind, um spätere Berufsleistung hervorzusagen.
Gehört die Situationsbeschreibung also zu diesem Verfahren wie die Webcam zu Videointerviews? Weit gefehlt!
Zu diesem Ergebnis kam nun eine neue Studie von Prof. Dr. Stefan Krumm und Kollegen, was einige Fragen aufwirft: Was messen SJTs überhaupt?
Situational Judgement Tests ohne Situation?
Die Idee hinter der Studie klingt so, als sage man einem Recruiter, er solle keine Fragen stellen, sondern die Bewerber einfach drauflos reden lassen: Wenn SJTs abbilden sollen, wie sich Personen in bestimmten Situationen später verhalten werden, dann sollten diese, ohne die Situation zu kennen, doch auch nicht sinnvoll aus verschiedenen Handlungsoptionen auswählen können, oder… ?
Also wurden in mehreren Studien einfach die Situationsbeschreibungen aus den SJTs genommen und Personen nur die Handlungsoptionen präsentiert. Erwarten würden die meisten jetzt, dass sich die Ergebnisse meilenweit unterscheiden…
Das Resultat ist jedoch erstaunlich: In bis zu drei Viertel der Fälle machte es keinen Unterschied, ob die Situation einfach weggelassen wurde. Was also bedeutet das?
Zurück zu den Grundlagen: Was messen STJs eigentlich?
Obwohl SJTs funktionieren (also aussagekräftig sind), gehen die Meinungen, warum das so ist, auseinander. Hierzu gibt es zwei unterschiedliche Sichtweisen.
1. SJTs messen generelle Wissensdomänen über effektives Verhalten, die eigentlich situationsunabhängig sind: Die meisten Personen wissen ungefähr, welche Verhaltenssets oft funktionieren und welche nicht. Die Situation wäre also völlig unnötig.
2. SJTs bilden das ab, was unter dem Label der praktischen Intelligenz oder heuristischen Entscheidungsbildung (hier ein spannendes Video vom Psychologen Gerd Gigerenzer zum Thema) subsumiert wird. Dies bedeutet, dass man auf konkrete Probleme angemessen reagieren kann. Hier ist der Kontext dann dementsprechend wichtig!
Fazit: Die Situation ist nur bedingt wichtig!
Die Ergebnisse stellen die generelle Brauchbarkeit von SJTs zu Auswahlzwecken nicht in Frage. Sie werfen allerdings die Frage auf, welche Anteile an kontextabhängigen und kontextunabhängigen Elementen diese enthalten. Bei SJTs, die tendenziell eher breitere Fähigkeitsbereiche wie „Integrität“ oder „Teamfähigkeit“ messen, war es eher egal, ob eine Situation beschrieben wurde oder nicht.
Bei spezifischeren SJTs war es dagegen wichtig, die Situation zu beschreiben (In der Studie wurde z.B. die Fähigkeit von Piloten untersucht, in kritischen Situationen gute Entscheidungen zu treffen, was aufgabenspezifisches Wissen erfordert.)
Empfehlung fürs Recruiting: Bei Expertenpositionen bitte Situation verwenden!
>> Bei Tests für Einstiegspositionen sind spezifische kontextbezogene Testverfahren oft gar nicht notwendig. Das ist gut, weil die Entwicklung dieser Tests erst durch diese Kontextbezogenheit so aufwendig und teuer wird. Hier geht es also auch einfacher!
>> Für Auswahl- oder Entwicklungsdiagnostik bei spezialisierten Experten ist eine starke Kontextbezogenheit nötig, um zu testen, in welchem Ausmaß relevante Wissensdomänen in praktische Entscheidungen überführt werden können.